SKIN & SCIENCE

Von wegen Idealzustand

Diese Rückenpartie mutet ziemlich männlich an, soll aber tatsächlich das Abbild einer weiblichen Göttin sein. Wohl nur recht wenige Frauen verfügen über eine solche Körperkontur – und erst recht nicht bei einem Lipödem.

Veröffentlicht am 25.03.2021

Schlanke durchtrainierte Beine, definierte Arme und ein straffer Po – diese Merkmale stehen bei vielen Frauen ganz weit oben auf der Wunschliste. Doch was ist los, wenn sich genau in diesen Regionen trotz eiserner Disziplin und Konsequenz immer mehr Fett ansammelt? In Deutschland leiden ungefähr 40 000 Frauen unter einer unheilbaren Störung der Fettverteilung, einem Lipödem. Manche beschreiben diese so: Ein Oberkörper mit Grösse XS sitzt auf einem Unterkörper in Grösse L. Doch es geht um mehr als um Proportionen, die nicht stimmig sind. Kernproblem ist, dass sich Fettzellen wahrscheinlich durch hormonelle Einflüsse (Pubertät, Schwangerschaft, Wechseljahre) vollkommen unkontrolliert zu vermehren beginnen, und zwar vor allem in den Oberschenkeln und um den Po. Bei etwa 30 Prozent der Betroffenen geschieht das zusätzlich auch an den Armen. Ein Lipödem am Bauch gibt es nicht. Die genaue Ursache dieser fortschreitenden Krankheit ist bis heute nicht geklärt. Eine erbliche Komponente gilt aber als sicher, denn häufig zeigt sich bei Mutter, Tochter und Grossmutter dasselbe Phänomen.

 

Es trifft einen keine Schuld

Klar ist: Ein Lipödem kann man sich nicht anfuttern – und es ist auch nicht die Folge eines «Couch-Potato»-Lebensstils. Umgekehrt haben weder Diäten noch sportliche Betätigung einen Einfluss auf ein Lipödem. Wer hungert, nimmt nur am Oberkörper ab. So wirken Beine, Po und auch die Arme nach der Gewichtsabnahme noch dicker als zuvor. Von Diäten ist wegen der bekannten Jo-Jo-Effekte ohnehin dringend abzuraten. Zudem können starke Gewichtsschwankungen die Beschwerden oft verschlimmern. Die unschönen Fettansammlungen haben viele bedrückende Konsequenzen: Die Erkrankung, die fast ausschliesslich bei Frauen auftritt, ist eine grosse psychische Belastung. Spöttische Blicke und abwertende Kommentare tun weh. Viele essen aus Resignation und um sich zu trösten immer wieder viel zu viel, was eine depressive Stimmung fördert und nicht selten in die Isolation treibt. Ausserdem spannt und schmerzt das Gewebe Tag für Tag – oft auch nachts – und schon bei geringem Druck können sich blaue Flecken bilden. Je nach Stadium (siehe auch unten) fallen Bewegungen auch immer schwerer.

 

Die Symptome erkennen

Dicke Beine, Übergewicht – oder Lipödem? Hausärzte sind mit der Diagnose eines Lipödems nicht selten überfordert. Spezialisten wie Lymphologen oder Phlebologen können jedoch ein Lipödem ganz eindeutig diagnostizieren. Typisch für diese Krankheit sind die symmetrischen Schwellungen der Beine bzw. der Arme sowie «Besenreisernester» im seitlichen Bereich der Oberschenkel, weiterhin das Missverhältnis von voluminösen Beinen und schlankem Oberkörper und die Tatsache, dass Diäten den Beinumfang nicht im Geringsten vermindern. Eines der wichtigsten Kennzeichen ist der Berührungs- und Druckschmerz, dazu kommen oft der Berstungsschmerz, also das Gefühl, als würden die Beine platzen, und die Neigung zu Blutergüssen. Bedeutsames Kriterium ist auch das negative Stemmersche Zeichen: Kann man über den Zehen eine Hautfalte nur schwer oder gar nicht abheben, handelt es sich nicht um ein Lipödem. Denn bei diesem lässt sich die Hautfalte problemlos abheben. Zur weiteren Abklärung können Ultraschallaufnahmen und andere diagnostische Verfahren beitragen.

 

Folgeschäden vermeiden

Eine frühe Diagnose ist wie bei vielen Krankheiten auch beim Lipödem sehr wichtig, um weitere Schäden möglichst zu vermeiden. Die Vermehrung des Fettgewebes behindert mit der Zeit zunehmend den Lymphfluss und kann bis zu einem Lipolymphödem führen, also einer zusätzlichen Bildung eines Lymphödems. Lymphstau und extremes Druck- und Spannungsgefühl können den Patienten dann das Leben zur Hölle machen. Die ersten Anzeichen eines Lipödems (altgriechisch: Fettschwellung) stellen die meisten Patienten am unteren Becken fest. Typisch sind also zunächst die «Reiterhosen» an Po und Hüften. Alarmierend: An diesem «dicken Po» ändern weder Diät noch Sport etwas.

Zu den typischen Symptomen gehören auch die anfängliche Cellulite («Orangenhaut») sowie geschwollene «schwere» Beine bei längerem Sitzen, Stehen, bei höheren Temperaturen und vor allem bei bestimmten Belastungen wie beim Bergabgehen oder beim Treppensteigen. Später machen sich Spannungsgefühle und Berührungsempfindlichkeit bemerkbar, zunehmend auch Schmerzen. Die Berührungsschmerzhaftigkeit kann so ausgeprägt sein, dass selbst das Anziehen vor allem von enganliegender Kleidung unangenehm wird. Beim weiteren Fortschreiten der Erkrankung können massive Fettwülste an den Beinen entstehen, die nicht nur das Gehen behindern und häufig Wundekzeme an der Innenseite der Oberschenkel hervorrufen, sondern eine X-Bein-Stellung und mit der Zeit eine Arthrose im Knie fördern. Wie schnell die Krankheit voranschreitet, ist individuell sehr verschieden und lässt sich nicht vorhersagen. Manchmal bleibt ein Lipödem über Jahre hinweg unverändert, manchmal vollzieht sich die Umfangsvermehrung in erschreckend kurzer Zeit.

 

So kann man helfen

Welche Behandlungen sind erfolgversprechend? Die schlechte Nachricht zuerst: Medikamente, die die aus dem Ruder gelaufene Vermehrung der Fettzellen eindämmen oder weitere Fettanlagerungen vermeiden, gibt es leider nicht. Die gute Nachricht: In vielen Fällen kann man die Beschwerden schon damit gut in den Griff bekommen, dass man sein Gewicht durch eine ausgewogene Ernährung hält, für regelmässige Bewegung durch geeignete Sportarten wie beispielsweise Schwimmen, Aquagymnastik, Fahrradfahren und Wandern/Spazierengehen sorgt und konsequent eine Kompressionsstrumpfhose trägt. Auch Kompressionstherapien mit Verbänden, Strümpfen oder auch die Hilfe der Intermittierenden Pneumatischen Kompression (IPK, auch Apparative Intermittierende Kompression/AIK) und Lymphdrainagen können angezeigt sein. Entstauungstherapien sollten nur von speziell ausgebildeten Fachkräften ausgeführt werden. Die Einnahme von entwässernden Präparaten sollte nie ohne ärztlichen Rat erfolgen und gilt in den allermeisten Fällen als sinnlos, wenn nicht sogar schädlich. Um seelisch im Gleichgewicht zu bleiben, kann eine psychologische Unterstützung hilfreich sein.

 

Fettabsaugung als Lösung?

Soll die Fettabsaugung bei Lipödem als Krankenkassenleistung durchgeführt werden können? Um diese Frage ist in den letzten Wochen und Monaten eine heftige Debatte entbrannt. Darüber, wie viele Frauen wirklich von einem Lipödem betroffen sind, gibt es lebhafte Diskussionen. Fachleute betonen, dass die hohe Zahl, die in vielen Medien kursiert, nur zustande kommen könne, wenn man fast jedes dicke Bein als Lipödem einstufe. Wie dem auch sei: Auch die Krankenkassenleistung «Fettabsaugung bei Lipödem» als solche wird kontrovers beurteilt. Was die meisten Patienten und zahlreiche Schönheitskliniken als längst überfällig begrüssen, lässt vielen Ärzten und Psychologen graue Haare wachsen. Letztere warnen davor, dass nun noch mehr Frauen glauben könnten, krankhaft dicke Beine zu haben. Schon jetzt sässen die Wartezimmer aus diesem Grund voll, neue Termine gäbe es teilweise erst in einem Jahr. Als gesund werde nur noch angesehen, wer von Kopf bis Fuss schlank ist.

 

Mass- und sinnvoll reagieren

Trotzdem steht fest: Ein aggressives Lipödem sollte gestoppt werden, bevor auch das Lymphsystem geschädigt ist. Das chirurgische Absaugen von Fettzellen und Lymphflüssigkeit ist die einzige Methode, die bei Lipödem länger anhaltende Erfolge bringt und betroffene Frauen für eine ganze Weile mit ihrem Erscheinungsbild versöhnt.

Wer ein nur mässig ausgeprägtes Lipödem (Stadium I) hat, sollte sich eine Fettabsaugung gut überlegen. Denn auch nach einem solchen Eingriff ist nicht alles gut, wie in manchen Angeboten suggeriert wird. Zum Verschwinden bringt eine Operation die Störung der Fettverteilung natürlich nicht, aber sie kann die Krankheit um zehn oder 15 Jahre zurückdrängen. In fortgeschrittenen Stadien kann nicht alles Fett in einem Eingriff abgesaugt werden, weil es sonst zu Kreislaufproblemen und anderen Komplikationen kommen könnte. Diese Operationen können viele Stunden dauern. Und danach braucht der Körper Zeit, um sich wieder zu erholen. Die Fettabsaugung beim Lipödem ist eine lymphologische Fettabsaugung, bei der ausschliesslich entlang der Lymphbahnen abgesaugt werden darf. Das erfordert das Können explizit ausgebildeter Chirurgen. Die Kosten für eine derartige Liposuktion bewegen sich je nach Aufwand, Klinik und Arzt zwischen 2’500 und 10’000 Franken.

Wenn das Lipödem fortschreitet …

  • Stadium I: Fettgewebsvermehrung im Bereich von Gesäss und Hüften (Reiterhosenphänomen)
  • Stadium II: Das Lipödem reicht bis zu den Knien, Fettlappenbildungen im Bereich der Knieinnenseite
  • Stadium III: Die Fettansammlungen erstrecken sich von den Hüften bis zu den Knöcheln
  • Stadium IV: Die Arme sind ebenfalls betroffen (bis zu den Handgelenken)
  • Stadium V: Lipolymphödem – zusätzliche Bildung eines Lymphödems, da der Lymphtransport beeinträchtigt ist und sich die Lymphflüssigkeit staut; vermehrte Wassereinlagerung in Hand- und Fussrücken sowie Fingern und Zehen

 

 

 

Text: Nina Lorenz

Fotos: stock.adobe.com (2)

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